|  Hallo 
              Freunde. Heute in der Früh hatte ich mich kaum aufs Fahrrad 
              geschwungen und war ein paar Kilometer gefahren, als es zu regnen 
              begann. Zuerst leicht, dann immer stärker, bis es so richtig 
              wie aus allen Kübeln schüttete. Nun ist so ein Regen immer 
              unangenehm, vor allem beim Radfahren und vor allem wenn man ein 
              bestimmtes Ziel vor Augen hat.  Ein 
              Ziel ist ein Ziel und umgedreht wird nicht. Und was soll schon viel 
              passieren? An ein paar Regentropfen ist noch keiner gestorben und 
              eine kleine Verkühlung ist auch nicht so schlimm. Kurz und 
              gut, ich trat also fleissig weiter in die Pedale, kam schliesslich 
              ans Ziel, machte meine gymnastischen Übungen und fuhr zufrieden 
              wieder nach Haus, stellte mich unter die heisse Dusche und habe 
              bis jetzt nichts von einer Verkühlung gemerkt. Ich glaube, 
              in Fachkreisen nennt man das "kalkuliertes Risiko". Vom 
              kalkulierten Risiko handelt das heutige ezine.  Kalkuliertes 
              Risiko ist wohl das, wenn man zwar bewusst ein Risiko eingeht, aber 
              sich dabei gute Chancen ausrechnet, sei es auf Grund der Vorbereitung 
              oder der Ausrüstung oder beides. dASs Risiko wird anerkannt, 
              aber eigentlich nicht allzu ernst genommen, da alle Vorbereitungen 
              getroffen wurden, die Gefahr auszuschalten. Dieses 
              kalkulierte Risiko hat es immer gegeben und wird es auch immer geben. 
              Nur will mir scheinen, dass heute das kalkulierte Risiko von vielen 
              extrem gedehnt wird. Viele Sportler scheinen zu glauben, heute gäbe 
              es keine Gefahr mehr. Und wenn, dann könne man das Risiko durch 
              die Wahl eines guten Führers oder technischer Errungenschaften 
              wie GPS oder Handy ausschalten.  In 
              letzter Zeit häufen sich die Zuschriften von jungen Männern, 
              die schreiben, ungefähr: "Ich will in den Sarek und will 
              da auf mich allein gestellt wandern. Schreib mir doch eine schöne 
              Route." Oder so ähnlich. Das wäre ja noch zu akzeptieren, 
              wenn dann nicht der Nachsatz kommen würde: "Ach ja, übrigens, 
              hat das Handy auch Empfang da oben in der Wildnis?" Hoppla, 
              denke ich dann, also willst du es jetzt wissen oder willst du nicht? Ich 
              weiss nicht, ob es nur mir so geht, aber mir kommt vor, da will 
              einer mit Netz und doppeltem Boden aufs Seil. Will also ein Risiko 
              eingehen und sich etwas beweisen, aber ganz so gefährlich soll 
              es nun doch wieder nicht sein. Sollte echte Gefahr auftreten, dann 
              will man schon in der Lage sein, Hilfe herbeizurufen. Da frage ich 
              mich: Warum? Entweder ich riskiere mein Leben und hole mir den Adrenalinstoss 
              den die Überwindung der Gefahr bringt, oder ich lasse es bleiben 
              und kaufe mir ein gutes Buch.  Von 
              einem, der das Risiko gekannt hat und auszog, es ohne Netz und doppelten 
              Boden zu erproben, der dann nur um Haaresbreite und durch freundliche 
              Menschen dem sicheren Tod entkam, davon handelt das heutige ezine. 
              Der Handlungsort wurde nach Alaska verlegt, damit eine gewisse Objektivität 
              gegeben ist.  
 Allein über die Brooks Range
 Von Hans Goger
 "Grizzlys? 
              Ja, es gibt eine Menge Grizzlys und auch Schwarzbären entlang 
              dem John River. Auch Wölfe sind nicht gerade selten. Aber die 
              grösste Gefahr auf deinem Trip sind ganz sicher die zahlreichen 
              Creeks und Nebenflüsse, die aus den Seitentälern der Brooks 
              Range in den hochwasserführenden John River einmünden. 
              In den Bergen hat die Schneeschmelze gerade erst richtig angefangen, 
              denn hier bei uns beginnt der Frühling gerade erst - Ende Mai", 
              erklärte mir ein Bewohner des hundertzwanzig Seelen Dorfs Anaktuvuk, 
              als ich ihn bezüglich meines Trips über die Brooks Range, 
              den nördlichsten Gebirgszug Alaskas anspreche.  Einen 
              guten Rat kriege ich noch mit auf den Weg: "Dort, wo der John 
              River und der Allen River ineinander übergehen, liegt eine 
              kleine Farm. Da leben Bill und Lillian Fickus, die musst du unbedingt 
              besuchen".  Vor 
              einigen Stunden war ich mit der kleinen Maschine der "Frontier 
              Airlines" aus Fairbanks, der Hauptstadt Alaskas in diese 200 
              km nördlich des Polarkreises gelegene Siedlung der Inpiateskimos 
              gekommen. Zwischen Anaktuvuk Pass und Bettles, einer weiteren Ortschaft 
              mit gerade 40 Einwohnern liegen an die 170 Kilometer ohne Siedlung 
              dazwischen. Gerade diese Strecke hatte ich mir für die Tour 
              vorgenommen. Damit würde ich die Brooks Range, einen der nördlichsten 
              Gebirgszüge der Erde überqueren.  So 
              schultere ich am dreissigsten Mai meinen 50-Kilo Rucksack und ziehe 
              los in die endlose, kahle und unbewohnte Tundra, immer Richtung 
              Süden. Schon auf den ersten Kilometern kriege ich einen Vorgeschmack 
              auf die Strapazen, auf die ich mich da eingelassen habe: Die ganze 
              Tundra ist ein einziger See.
 
 "NIGGERHEADS" IM PERMAFROST
 Permafrost 
              ist angesagt. Die Erde ist auch im Sommer bis zu 300 m tief gefroren 
              und nur eine dünne Schicht taut im Sommer auf. Dadurch kann 
              das Schmelzwasser nicht versickern und wird nur von den Flüssen 
              abtransportiert. Ausserdem ist das Land mit sogenannten "Niggerheads" 
              übersät, das sind ca. dreissig Zentimeter hohe Grasbüschel, 
              die nicht fest mit dem gefrorenen Boden verbunden sind. Steigst 
              du auf diese Dinger, verlierst du sofort den Halt und "stürzt" 
              ab. Zwischen den Grasbüscheln steht dreissig Zentimeter tiefes 
              Eiswasser, das schon nach kurzer Zeit meine Zehen klamm werden lässt. Ein 
              Blick über die grandiose Landschaft entschädigt mich immer 
              wieder für die Strapazen. Schneebedeckte Berge, rauschende 
              Flüsse, hin und wieder kleinere Gruppen von Rentieren.Mein erstes Nachtquartier schlage ich an einem windgeschützten 
              Hang auf. Todmüde falle ich auf die Matte. Ich mache mir nicht 
              einmal die Mühe, mein Zelt aufzuschlagen, denn der Himmel ist 
              wolkenlos und ausserdem bin ich in der ersten Nacht in der Wildnis 
              noch unruhig und will freie Sicht auf etwaige wilde Tiere haben.
 Aus 
              Rücksicht auf meine Sicherheit und das gute Geruchsorgan der 
              Tier hatte ich schon am späten Nachmittag gekocht und gegessen. 
              Um keine Grizzlys durch den Duft meiner Leckereien ans Lager zu 
              locken, war ich dann noch ein paar Meilen weitergestapft.  An 
              meinem Rucksack scheppert die ganze Zeit bei jedem Schritt der Löffel 
              gegen die Bratpfanne. Eine Vorsichtsmassnahme, um alle Bewohner 
              der Gegend über mein Herannahen zu informieren. Die Nacht gestaltet 
              sich harmonisch: Der Wind säuselt sanft ein Wiegenlied und 
              von wilden Tieren keine Spur.  Am 
              Morgen werde ich mit einem Riesenhunger munter und mache mich daran, 
              ein kräftiges Frühstück zuzubereiten. Nüsse, 
              Haferflocken, Zucker, Rosinen .. eine richtige Kalorienbombe also. 
              5000 Kalorien will ich mir pro Tag vergönnen. So 
              vergehen die Tage: Marschieren, reissende Flüsse durchqueren, 
              über Grasbüschel stolpern, langgezogene Schneefelder passieren, 
              kochen, Zelt aufstellen, schlafen. Der Publituk Creek reisst mich 
              fast mit - erst im letzten Moment kriege ich einen Strauch zu fassen 
              und kann mich mit Müh´ und Not ans Ufer ziehen. 
 WÖLFE UND BÄREN
 Langsam 
              dringe ich ins eigentliche Alaska mit seinen tiefen Wäldern 
              und tausend Seen vor. Hier wird auch die Gegend belebter. Zwei Wölfe 
              pirschen sich eines Morgens an mein Lager, auf meine Rufe reagieren 
              sie überhaupt nicht, sondern verschwinden erst, als ich ein 
              paar Schüsse in die Luft abfeuere.  Irgendwo 
              in der Übergangszone zwischen Tundra und Wald habe ich auch 
              meine erste richtige Begegnung mit einem ausgewachsenen Bären: 
              Ich wandere einen ausgetretenen Wildpfad entlang, sehe auch öfters 
              Bärenlosung, als plötzlich aus einem dicht bewaldeten 
              Flusstal ein mächtiger Grizzly herausgetrottet kommt. Ich mache, 
              dass ich von seinem Trampelpfad wegkomme. Er ist sich seiner Vorrangstellung 
              auch bewusst, streift mich nur kurz mit einem Blick, richtet sich 
              dann hoch auf, und beginnt, seinen Rücken am Stamm einer Fichte 
              zu reiben. Er ist so schwer, dass der ganze Baum zittert. Diese 
              Nacht schlafe ich mit dem Gewehr in der Hand. Doch sie vergeht ohne 
              Zwischenfälle. Der Hauptkamm der Brooks Range liegt vor mir. 
               Der 
              Bergkamm, der von weitem so einfach und nahe ausgesehen hatte, gestaltet 
              sich im Laufe des Tages zu einem wahren Höllentrip. Andauernd 
              gab es irgendwelche Hindernisse, von Steilfelsen über verräterische 
              Grasbüschel bis zu enorm steilen Geröllhalden.  Es 
              ist Abend und ich mache mich auf die Suche nach einem Lagerplatz. 
              Ich habe gerade einen unübersichtlichen Steinaufbau umrundet, 
              als ich wie angewurzelt stehenbleibe. Dreissig Meter vor mir stehen 
              zwei mächtige Grizzlys.  Nach 
              einer Schrecksekunde mache dann das einzig richtige: Ich rede beruhigend 
              auf die beiden ein, während ich im rechten Winkel von ihnen 
              weggehe, um ihnen zu signalisieren, dass ich ihre Intimsphäre 
              nicht zu verletzten gedenke. 
 
 BEGEGNUNG MIT DEM SCHWARZBÄREN
 Das 
              ist ja noch einmal gut gegangen, denke ich und wische mir den Angstschweiss 
              von der Stirn, als aus einem bewaldeten Seitental ein Schwarzbär 
              wieselflink herausgelaufen kommt. Als er meiner ansichtig wird, 
              hat er es plötzlich gar nicht mehr eilig, sondern scheint hocherfreut, 
              endlich einen Gefährten gefunden zu haben!! Auch meine Pfanne 
              und der Lärm, den der Löffel verursacht, kann ihn nicht 
              abhalten, es ist Liebe auf den ersten Blick! Ich 
              nehme die Beine in die Hand und marschiere so schnell ich kann von 
              dannen, immer mit einem Auge auf den zutraulichen Burschen schielend. 
              Er folgt mir unverdrossen, kommt einmal näher, um dann wieder 
              auf dreissig Meter Abstand zurückzufallen. Erst nach etwa einer 
              halben Stunde macht er sich daran, die Nachtruhe anderer Waldbewohner 
              grabenderweise zu stören.  Ich 
              mache, dass ich weiterkomme. Ich will unbedingt zu den Hütten 
              am Tangleblue Creek. Es ist Mitternacht, um vier Uhr früh bin 
              ich da oder besser bei dem, was einmal Hütten waren. Ein Bretterhaufen 
              ist alles, was von den beiden Hütten übrig ist. Deprimiert 
              und niedergeschlagen suche ich Schutz unter einer riesigen Fichte. 
               Die 
              Bodenverhältnisse werden immer schlechter, nicht selten stapfe 
              ich bis zu den Knien im Wasser. Zu allem Überdruss macht sich 
              ein stechender Schmerz in meinem rechten Sprunggelenk bemerkbar. 
              Ich merke, dass der Fuss bereits deutlich angeschwollen ist. Die 
              Marschfreudigkeit nimmt nach dieser Entdeckung und die Schmerzen 
              bedingt rapide ab. 
 
 KLETTERN, KRIECHEN, WATEN
 Vor 
              mir erstreckt sich ein langgezogenes Felsband, das nach ca. zehn 
              Kilometern endet und den Blick auf ein weites Tal freigibt. Dort 
              mündet der Allen River in den John River.  Riesige 
              Steine, umgeknickte Bäume und dichtes Gestrüpp bilden 
              eine undurchdringliche Mauer. Der Talboden ist in einem katastrophalen 
              Zustand. Das ganze Gebiet ist, durchzogen von Flussläufen und 
              Rinnsalen, in einem bodenlosen Morast versunken.  Klettern, 
              kriechen, waten, so bewege ich mich weiter wie eine Schnecke und 
              im gleichen Tempo. Andauernd verheddert sich der Rucksack oder das 
              Gewehr. Mein Fuss brennt wie Feuer. Bei jeder Gelegenheit strecke 
              ich ihn zur Kühlung ins Wasser. Nach drei Stunden Schwerstarbeit 
              bin ich kaum weitergekommen.  Es 
              ist bereits weit nach Mitternacht, als ich endlich das Tosen eines 
              Flusses höre. Das muss der Allen River sein! Nach einer weiteren 
              Stunde erreiche ich das Ufer. Die nächste Enttäuschung. 
              Unmöglich, diesen reissenden Fluss mit Gepäck zu überqueren! 
              Starkes Hochwasser, jede Menge Treibgut, hauptsächlich Baumstämme. 
              Noch eine Nacht im Zelt und jetzt stürzen sich zu allem Überdruss 
              Millionen blutgieriger Moskitos auf mich.  Dazu 
              kommt noch mein Fuss, der wirklich übel aussieht. Von den Zehen 
              bis zum Knöchel ist er dunkelblau und geschwollen. Schon die 
              kleinste Berührung schmerzt höllisch. Ich komme zwar in 
              den Schuh, aber kann nicht auftreten sondern humple am Stock dahin. 
              Ich suche verzweifelt eine Furt. Doch es ist nichts zu machen. Verzweifelt 
              spähe ich flussauf und flussab. Es hilft nichts, ich muss schwimmen. 
              
 MIT BLUTVERGIFTUNG DURCH DEN ALLEN RIVER
 Knapp 
              vor der Mündung in den John River macht der Allen River einen 
              Rechtsknick. Dort will ich es versuchen. Die Strömung wird 
              mich - hoffentlich - ans andere Ufer treiben. Meine Ausrüstung 
              habe ich in einer Astgabel deponiert. Glück im Unglück, 
              wie ein Stück übriggebliebenes Strandgut spült mich 
              der Fluss an Land.  Hier 
              irgendwo sollte doch die Farm von Bill und Lilian liegen? Ich suche 
              und suche, erst nach zwei Stunden Todesangst sehe ich in der Ferne 
              einen Windsack flattern. Dort muss es sein. Ich brauche noch den 
              ganzen Tag. Die beiden können gar nicht glauben, dass ich in 
              der Tauperiode von Anaktuvuk heruntermarschiert bin. Erst als ich 
              meine Flussüberquerung schildere und beschreibe, wo ich mein 
              Gepäck gelassen habe, glauben sie meine Story.  Lilian 
              ist Krankenschwester und schaut sich meinen entzündeten Fuss 
              an und diagnostiziert Blutvergiftung. Das Aus ist für meine 
              Wanderung ist gekommen. Erst zwei Wochen später bin ich transportfähig. 
               Kalkuliertes 
              Risiko? Glück? Oder liegt der Sinn des Lebens wirklich nur 
              darin, zu überleben und alles andere ist egal? 
 Teil1
 Teil 
              2
 Teil3
 Teil4
 Teil5
 Teil6
 Last Updated: Freitag, 14.Oktober 2011 Copyright 1999-2011 Dr. Eduard Nöstl
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